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Ukraine-Flucht: 7 Millionen Vertriebene möglich, EU ist alarmiert - und will „Massenzustrom“-Klausel ziehen

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Von: Florian Naumann

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Fahrgäste warten am Bahnhof von Lwiw in der Westukraine auf einen Zug nach Polen.
Fahrgäste warten am Bahnhof von Lwiw in der Westukraine auf einen Zug nach Polen. © Bernat Armangue/AP/dpa

Die Lage im Ukraine-Krieg ist dramatisch. Die EU rechnet mit Millionen Flüchtenden - die Union will zugleich einen historischen Turnaround bei der Bewältigung der Lage schaffen.

Brüssel - Auch am Sonntag (27. Februar) tobten teils heftige Kämpfe in der Ukraine - viele Menschen im Land leiden unter Todesangst und auch Zerstörungen. Die EU rechnet nun mit einer riesigen Fluchtbewegung im Zuge des Ukraine-Konflikts*. Sie wisse nicht, wie viele Menschen kommen werden, sagte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson am Sonntag vor einem Krisentreffen in Brüssel.

„Ich denke, wir müssen uns auf Millionen vorbereiten“, sagte die Schwedin. Auch Deutschland bereitet sich auf eine massive Flucht aus der Ukraine vor - und will dabei laut Innenministerin Nancy Faeser (SPD) auf „unbürokratische Lösungen“ und ein „starkes Signal“ setzen. Faeser sprach von einem „totalen Paradigmenwechsel“ in dem Konflikt. Auch Kanzler und Parteigenosse Olaf Scholz hatte zuvor im Bundestag von einer „Zeitenwende“ gesprochen.

Ukraine-Krieg: Mehr als sieben Millionen Vetriebene erwartet - UN plant Hilfsappell

Noch konkreter wurde EU-Krisenmanagement-Kommissar Janez Lenarcic. Die derzeit erwartete Anzahl vertriebener Ukrainer liege bei mehr als sieben Millionen, sagte der für EU-Krisenmanagement zuständige Kommissar Janez Lenarcic am Sonntag in Brüssel. Im schlimmsten Fall - falls dieser Krieg andauere - würden sie dringenden Bedarf an humanitärer Hilfe haben. Die Vereinten Nationen würden deshalb einen dringenden Hilfsappell an die Staatengemeinschaft richten. Die EU-Kommission habe bereits 90 Millionen Euro an Hilfsgeldern mobilisiert

Auch eine konkrete Maßnahme wurde schon am Sonntagabend publik: Die EU-Kommission will erstmals vorschlagen, Regeln für den Fall eines „massenhaften Zustroms“ von Vertriebenen in Kraft zu setzen. Sie werde dazu beim nächsten Treffen der EU-Innenminister an diesem Donnerstag einen Vorschlag vorlegen, sagte Johansson am Sonntag nach dem Treffen.

Ukraine-Konflikt: Bislang 300.000 Ukrainer in der EU - Kommissarin rechnet mit größerem Zustrom

Laut Johansson sind bislang wegen des russischen Krieges rund 300.000 Ukrainer in die EU* gekommen. Nur wenige hätten jedoch Asyl beantragt oder Schutz in den Unterkünften der Mitgliedstaaten gesucht. Stattdessen seien sie bei Freunden oder Verwandten untergekommen. Doch man müsse sich darauf einstellen, dass noch viel mehr Menschen aus der Ukraine ankommen*, sagte Johansson. Sie werde deshalb eine Solidaritätsplattform vorschlagen, um die Hilfe der EU-Staaten zu koordinieren.

Um eine Umverteilung von Flüchtlingen habe bislang noch kein EU-Land gebeten, auch keines direkt an der Grenze zur Ukraine wie Polen oder die Slowakei. Nach Angaben des polnischen Grenzschutzes kamen seit Beginn des Ukraine-Kriegs bereits in Polen mehr als 200.000 Flüchtlinge an. Nur Moldawien habe Hilfe der EU angefragt, hieß es. Bislang zählte die Unterbringung von Geflüchteten zu einem der Hauptstreitthemen der EU*. Doch im Ukraine-Konflikt ist die Solidarität groß, in Berlin gingen am Sonntag deutlich über 100.000 Menschen gegen den Krieg des Kreml auf die Straße.

+++ Ein bekannter Hotelier am Tegernsee quartiert Geflüchtete aus dem Ukraine-Krieg in sein Luxus-Hotel ein. +++

Ukraine-Konflikt: Faeser will Paradigmenwechsel für Geflüchtete - „Es ist wieder Krieg in Europa“

„Für uns geht es jetzt vor allen Dingen darum, unbürokratische Lösungen zu finden, um die Menschen möglichst schnell in Sicherheit zu bringen“, sagte Ministerin Faeser. „Es ist zum ersten Mal wieder Krieg in Europa. Und da wäre es natürlich ein sehr starkes Signal, wenn Europa sich heute auf diese humanitäre Aufnahme und möglichst unbürokratisch auch verständigt.“

Innenministerin Nancy Faeser am Sonntag in Brüssel.
Innenministerin Nancy Faeser am Sonntag in Brüssel. © John Thys/AFP

Nun soll also die „Massenzustrom“-Klausel gezogen werden. Konkret könnte Vertriebenen dadurch ohne langwieriges Asylverfahren unverzüglich vorübergehender Schutz gewährt werden. Die Richtlinie soll angewendet werden, wenn es möglicherweise so viele Asylanträge gibt, dass das Standardprozedere zu negativen Auswirkungen bei der Bearbeitung führen könnte.

Dabei müssten gemeinsame Mindeststandards eingehalten werden. Dazu gehört etwa eine Arbeitserlaubnis sowie Zugang zu Sozialhilfe, medizinischer Versorgung, Bildung für Minderjährige und unter bestimmten Bedingungen auch die Möglichkeit zur Familienzusammenführung. Auch die freiwillige Umverteilung von Flüchtlingen in der EU ist möglich. Die Richtlinie ist eine Folge der Kriege in den 1990er Jahren im ehemaligen Jugoslawien. Auch dort, in Bosnien-Herzegowina, gab es zuletzt wieder eine stark krisenhafte politische Situation*.

EU im Ukraine-Krieg: Etliche Staaten bereit zu Geflüchteten-Aufnahme - WHO warnt vor gravierendem Notstand

Unterstützung kam für das Auslösen der Richtlinie etwa von Frankreich, das derzeit den Vorsitz der EU-Staaten innehat, sowie von Belgien. Etliche Staaten zeigten zudem die Bereitschaft zur Aufnahme von Flüchtlingen und drangen auf EU-weite Solidarität. „Ich hoffe, dass wir in der Lage sein werden, gemeinsam Verantwortung für die Menschen zu übernehmen, die vor der russischen Aggression fliehen“, sagte der schwedische Innenminister Anders Ygeman.

Wie ernst die Lage in der Ukraine* teils schon ist, zeigte unterdessen auch eine Warnung der Weltgesundheitsorganisation WHO: Sie sieht einen gefährlichen Engpass bei der Versorgung mit Sauerstoff in ukrainischen Krankenhäusern nahen. „Die Situation bei der Sauerstoffversorgung nähert sich einem sehr gefährlichen Punkt in der Ukraine“, hieß es in einer WHO-Mitteilung am Sonntag.

Lastwagen seien nicht in der Lage, Nachschub von Fabriken im Land in Krankenhäuser zu bringen, einschließlich in der Hauptstadt Kiew, so die Mitteilung weiter. Die Vorräte in manchen Kliniken könnten bereits in den kommenden 24 Stunden aufgebraucht sein, mancherorts sei es sogar schon so weit. Tausende Leben würden dadurch in Gefahr gebracht. Eine Karte von IPPEN.MEDIA zeigt, welche ukrainischen Gebiete Russland bislang unter seine Kontrolle bringen konnte. (dpa/fn) *Merkur.de ist ein Angebot von IPPEN.MEDIA.

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